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Senat der Pädagogischen Hochschule Heidelberg genehmigt neues Forschungsprojekt von Patio13 zum Thema „Religion der Straße“

Hartwig Weber (Januar 2006)

Während der letzten Jahre (2001 – 2005) versuchten wir in dem Projekt Patio13 die Lebenswelt kolumbianischer Straßenkinder durch teilnehmende Beobachtung und Befragungen zu erkunden, um ihnen auf der Basis des dadurch gewonnenen Wissens und Verständnisses angemessene Angebote von Grundbildung machen zu können. Dabei stellten wir fest, dass in den Überlebensstrategien dieser Kinder und Jugendlichen Religion eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt. Über die religiöse Dimensionen in den Vorstellungen, Wünschen und Praktiken von Straßenbewohnern und über deren alltagsorientierende Bedeutung schweigt sich die einschlägige Forschungsliteratur bisher jedoch aus.

Diese Tatsache unterstreicht die Notwendigkeit und Relevanz eines Forschungsvorhabens, das die soziale Praxis von jungen lateinamerikanischen Straßenbewohnern im Blick auf Religion und Religiosität erkundet und entschlüsselt. Dabei wird untersucht, wie junge Menschen unter extremen materiellen Existenzbedingungen und den Entfremdungserscheinungen des alltäglichen Elends der Straße Religion konstruieren und dabei die charakteristischen religiösen Fragen nach einem persönlichen Heil, dem Tod, der Existenz des Bösen, dem Sinn des Leidens für sich beantworten. Das Forschungsvorhaben orientiert sich an einem weiten Religionsbegriff, der auch säkularisierte Problemstellungen im Grenzbereich von Psychologie und Metaphysik einbezieht.

Die geplante Untersuchung setzt voraus, dass religiöse Vorstellungen, Wünsche und Praktiken in Abhängigkeit von der Position im sozialen Raum variieren. Religion ist nicht, sondern sie entsteht, wobei sich Übereinstimmungen zwischen Glaubensinhalten (sowie religiösen Praktiken) und religiösen Interessen einstellen. Die selektive Rezeption religiöser Inhalte führt naturgemäß zu charakteristischen Umdeutungen, wenn sich, je nach Position, die Wahrnehmungs- und Denkschemata verändern. Angesichts der faktisch extremen Existenzbedingungen von Straßenbewohnern können sich ihre religiösen Praktiken und Glaubenssysteme von konventionelleren Inhalten und Formen, wie sie traditionell verfochten werden, weit entfernen. Sie wandeln sich in dem Maße, wie sich ihre Funktionen verändern. So kann damit gerechnet werden, dass in dem noch weithin von der überkommenen römisch-katholischen Religiosität geprägten lateinamerikanischen Umfeld einem Grundbestand an gemeinsamen christlichen Vorstellungen, Dogmen und Riten ein Maximum an abweichender, ja gegensätzlicher Interpretation korrespondiert, wobei in unterschiedlichen Lebenslagen dieselben Begriffe und Praktiken unterschiedlich interpretiert und tendenziell sogar gegensätzliche Bedeutungen annehmen können.

Zur Beschreibung und Analyse religiöser Phänomene unter den Bedingungen der Straße wird hier die ethnologisch-soziologische Theorie des religiösen Feldes, wie sie Pierre Bourdieus entwickelt hat, zu Grunde gelegt . Religion ist für Bourdieu ein Gut („Kapital“) mit symbolischem Wert, der darin besteht, dass existentielle Erfahrungen wie Angst, Ohnmacht und Grenzüberschreitungen einen Bedarf an rituellen Handlungen und Symbolen erzeugen, die durch transzendente Vorstellungen und symbolische Heilsgüter befriedigt werden. Religion, ein eigener Typus der Wirklichkeitsstrukturierung, der Relatives und Willkürliches verabsolutiert, ist also ein Mittel zur Konstruktion legitimierender Erfahrung. Bei der Anwendung der Theorie Bourdieus auf das religiöse Feld der Straße zeigt sich, dass die überkommenen Inhalte und Grenzen der Frömmigkeit mehr und mehr verschwimmen: Individualisierung, Privatisierung und „unsichtbare“ („implizite“) Religion führen zu zunehmender Pluralisierung und Auflösung von Tradition.

Unter den Lebensbedingungen der Straße ist Religion ein Faktor, der Wirklichkeit dadurch strukturiert, dass gegebene Chancen an gelebte Hoffnungen (und umgekehrt) angepasst werden. Wenn die Aufgabe von Religion tatsächlich in der Erklärung, Gestaltung und Rechtfertigung eines Daseins besteht, das von existentieller Angst, drohenden Wechselfällen, Verlassenheit, alltäglichem Elend, Entbehrungen, Krankheiten, Leiden und Tod bestimmt ist, so stellt sich mit Nachdruck die Frage, wie sie unter den Bedingungen der Straße hilft, Ursachen und Gründe für Ungerechtigkeit und Unterprivilegierung zu formulieren oder zu verdrängen. Legitimiert sie nur die jeweiligen sozialen Positionen? Macht sie sie erträglicher oder hinterfragt sie sie? In der Konsequenz dieser Fragen wird jede Theodizee zur „Soziodizee“.

Die Untersuchung zu religiösen Vorstellungen und Praktiken von Kindern und Jugendlichen, die auf den Straßen kolumbianischer Städte vagabundieren, ist aus vielerlei Gründen auch für Deutschland wichtig und von anthropologischer und religionspädagogischer Relevanz. Für den Bereich der Religionsethnologie und die Frage des Zusammenhangs von Lebenssituation und subjektiver Religion können wichtige Erkenntnisse erwartet werden. Dasselbe gilt für den Problembereich der Erforschung von Jugendreligion als Grundlage didaktischer und religionspädagogischer Entscheidungen. Seit einigen Jahren trifft man auch in Mitteleuropa und selbst in den reichen Industrienationen auf das Phänomen Straßenkinder. Auf ähnliche pädagogische Herausforderungen wie in der Konfrontation mit obdachlosen Kindern und Jugendlichen stoßen zum Beispiel Hauptschullehrer, die Schüler aus gesellschaftlichen Problemzonen unterrichten. Das Thema Gewaltprävention ist auch in deutschen Schulen virulent und von religionspädagogischer Relevanz. Bei späteren Vorhaben können die auf den Straßen Kolumbiens gewonnenen Forschungsergebnisse mit Untersuchungen zum Beispiel in Deutschland verglichen werden.