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Elektrizitätslehre für die Straße?
Straßenkinder in Medellín lernen Physik

Ein Bericht von Antony Crossley (Mai 2003)

Der Kolumbienaufenthalt von Antony Crossley wurde durch
einen Reisekostenzuschuss aus Mitteln des Landes
Baden-Württemberg unterstützt

Fragt man Schüler nach ihrem Lieblingsfach, so sind die Favoriten schnell ausgemacht: Sport, Kunst, Musik oder Englisch sind immer unter den Top-Five zu finden. Naturwissenschaften, und dabei insbesondere Physik, rangieren hingegen fast ausnahmslos auf den hinteren, um nicht zu sagen auf den letzten Plätzen.

Im Rahmen meiner Zulassungsarbeit für das erste Staatsexamen hatte ich im Februar 2003 die Gelegenheit, drei Wochen in Kolumbien zu verbringen, um dort Straßenkindern die schönen und interessanten Seiten der Physik ein wenig näher zu bringen. Physik? Straßenkinder? Wenn schon die Schüler hier bei uns kaum Interesse an Physik haben, wieso erspart man es dann nicht wenigstens den Straßenkindern, die doch sicher viel gravierendere Probleme zu bewältigen haben, als sich mit Formeln herumzuschlagen. Ich gebe zu, dass sich diese oder ähnliche Fragen geradezu aufdrängen und habe sie deshalb auch schon mindestens ein dutzend Mal beantworten müssen.

Nach fast elf Stunden Flug und einigen kleinen Meinungs-verschiedenheiten mit dem Passagier hinter mir war ich einigermaßen erschöpft und hungrig. Wahrscheinlich resultierte daraus auch der erste Gedanke, der mir beim Landeanflug auf Bogotá durch den Kopf schoss: „So so, hier kommen also die ganzen Drogen her. Hoffentlich gibt es hier was Anständiges zu essen.“ Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass die einzigen Drogen, die ich zu sehen bekommen würde, die Klebstoffflaschen der Straßenkinder sein würden, und dass die Verpflegung eine echte Herausforderung werden sollte. Trotzdem war mir Kolumbien auf Anhieb sympathisch. Den Zoll hatte ich schnell passiert, verloren gegangen war auch nichts, und die Beamten, die meinen Koffer durchsucht hatten, waren sehr freundlich. Es war Abend und angenehm warm. Zwei Stunden, einen Flug und drei Sandwiches später - ein netter Passagier hatte meine Not erkannt, die Stewardess überlistet und ein extra Sandwich stibitzt - hatte ich schon drei Kolumbianer kennen gelernt und blickte über das nächtliche Medellín. Ein schöner Anblick. Es war keine Spur von Armut oder Elend weit und breit zu sehen. Dieser Anblick verfolgte mich an dem Abend, bis ich bei meiner Gastfamilie im Bett lag und einschlief.

Meine Aufgabe war es, in drei Wochen herauszufinden, wie viel die Lehramtsstudentinnen der Escuela Normal Superior vom letzten Besuch einer Physik-Delegation der PH im August 2002 behalten hatten und mit ihnen ein didaktisches Konzept zu erarbeiten, wie wir den Straßenkindern im Patio Elektrizitätslehre näher bringen können. Von einigen organisatorischen Schwierigkeiten abgesehen, hat der Unterricht mit den Studentinnen sehr viel Spaß gemacht. Wir haben uns drei Mal in der Woche getroffen, einige physikalische fachwissenschaftliche Themen durchgearbeitet und parallel dazu überlegt, wie wir die Inhalte didaktisch aufbereiten müssen, um bei den Straßenkindern dafür Interesse zu wecken. Dabei kamen wir u. a. zu folgendem Ergebnis:

1. Motivation ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer Unterrichtseinheit.

2. Die Straßenkinder müssen selbst Physik erfahren; an so etwas wie Frontalunterricht ist gar nicht zu denken.

3. Der Unterricht muss gut und straff strukturiert und geplant sein.

Vor der verschlossenen Tür des Patio saßen einige Kinder. Aber warum saßen sie draußen? Ich war verwirrt. Erst nach einigen Minuten reagierte jemand auf unser Klopfen, öffnete die Metalltür und ließ uns rein. Dort wurden wir schon erwartet. Einige Straßenkinder, besonders die jüngeren, kamen auf uns zugerannt. Bevor wir überhaupt richtig drin waren, hatten wir schon sieben, acht Kinder um uns. Es kam mir ein bisschen wie im Zirkus vor. Als wenn wir die Attraktion des Tages wären. Aber am meisten beeindruckt hat mich etwas anderes. Als ich ankam, habe ich sehr wenig Spanisch gesprochen, und die Kinder im Patio habe ich eigentlich gar nicht verstanden. Das schien ihnen aber nichts auszumachen. Die Tatsache, dass sie sich mit mir nur mit Händen und Füßen unterhalten konnten, hat ihr Interesse an mir anscheinend überhaupt nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil, sie haben versucht Englisch zu sprechen und mir einige Wort in Spanisch beizubringen.

Später habe ich erfahren, dass die Kinder draußen vor der Tür gar keine Kinder mehr sind. Sie sind mindestens 18 Jahre alt und dürfen deshalb nicht mehr in den Patio. Als wir den Patio verließen, habe ich mir die Jungs und Mädchen vor der Tür noch einmal genau angesehen. Sie sahen gar nicht erwachsen aus. Einige hätte ich höchstens auf 15 oder 16 geschätzt. Ich stand da, sah sie an, roch ihren Klebstoff und fragte mich, ob die Zeit, die sie im Patio verbracht haben, als sie noch jung genug waren, irgendeinen positiven Einfluss auf ihr jetziges Leben hatte. Und ob die anderen Straßenkinder, die wir unterrichten wollten, auch mit 18 Jahren hier stehen würden?

An einem späten Nachmittag saß ich im Zimmer einer Studentin der Escuela Normal Superior und spielte mit ihrem kleinen Bruder ein Computerspiel. Wir hatten den gleichen Heimweg, und sie hatte mich an diesem Tag zum Abendessen eingeladen. Zuvor hatte sie immer wieder betont, wie klein und hässlich ihr Haus sei, sodass ich einerseits auf das Schlimmste gefasst und andererseits voll Neugier fast ein wenig aufgeregt war. Es wird das erste Mal sein, dachte ich, dass ich wirklich ein Stück Armut hautnah erleben werde. Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Als die Tür aufging und mich ihre Mutter herzlichst begrüßte, war mir klar, dass ich hier zwar wieder ein neues Stück Kolumbien entdecken würde, aber nicht den Teil, der mich so brennend interessierte.

Ich wollte in Kolumbien eine andere Lebensweise kennen lernen, nämlich die der Straße, und nun saß ich in einer zwar bescheidenen, aber besser ausgestatteten Wohnung, als ich sie selbst in Heidelberg hatte. Als ich vor dem Computer saß und im Hintergrund Eminem lief, wunderte ich mich: So verschieden und doch so ähnlich! Der Computer war von Dell, das Betriebsystem von Microsoft, es gab eine Mikrowelle, zwei Fernseher, Telefon, warmes Wasser. Wohin und wie weit würde ich wohl reisen müssen, um die andere Welt zu erleben?

Endlich war es soweit. Die erste Unterrichtsstunde stand kurz bevor. Die Aufgaben waren alle verteilt. Die Studentinnen hatte ich gut vorbereitet, jedenfalls was die Physik und die Didaktik betraf, und ich war gespannt, ob unser Unterricht funktionieren würde oder ob wir aus Schülermangel nach einigen Minuten abbrechen müssten. Als ich an der Tür zum Patio klopfte, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Vermittlungshilfen! Wie sollte ich bei Verständnisschwierigkeiten irgendeine Vermittlungshilfe geben können, wenn ich nicht verstehe, was die Studentinnen mit den Kindern besprechen und welche Probleme dabei auftreten. Bevor ich den Gedanken zu Ende bringen konnte, ging die Tür auf, und drei Kinder zerrten mich herein. Es war zu spät. Aber wir waren sehr gut vorbereitet, hatten alles ausführlich besprochen, unsere Ziele klar formuliert, und jeder wusste, was zu tun war, welche Schwierigkeiten auftreten konnten und wie damit ungegangen werden sollte. Eigentlich musste es funktionieren. Und da ich sonst im Unterricht immer zu schnell und viel zu viel rede, war dies eine gute Übung für mich, einfach mal die Klappe zu halten.

Nach der Motivationsphase, in der ein Spiel gespielt wurde, ging es los. Die Kinder sollten mit einer Batterie, einer Fassung, einer Lampe und zwei Kabeln die Lampe zum Leuchten bringen. Niemand hatte einen Zweifel daran, dass alle diese einfache Aufgabe bewältigen würden, aber interessiert hat uns u. a., wie groß das Interesse daran war, es auch zu verstehen und eine Erklärung zu bekommen. Erstaunlicherweise war das Interesse sehr groß. Insgesamt haben sich die Kinder mit diesem Problem fast 30 Minuten lang konzentriert herumgeschlagen und waren neugierig auf mehr. Ein Verhalten, dass bei der Vergleichsklasse an der Escuela Normal Superior nicht beobachtet werden konnte. Die Aufgabe wurde dort von einer neunten Klasse zwar etwas schneller gelöst, aber das Interesse war mit dem Aufleuchten der Lampe erloschen, die Experimentierphase abgeschlossen, und die Erklärung hat keinen wirklich brennend interessiert. Anders im Patio: Nachdem das erste Problem gelöst war, wollten die Kinder mehr Kabel und zusätzliche Lampen zum Experimentieren haben. Niemand von uns hatte dies zuvor angeboten. Sie hätten auch aufstehen und rausgehen können. Stattdessen haben alle weitergemacht, bis wir die Stunde beendeten.

Tage später sah ich endlich, wovon ich gerne viel mehr gesehen hätte. Nach einer rasanten Autofahrt waren wir mitten im einem eher unfreundlichen Stadtteil. Kolumbianer behandeln ihre Autotüren übrigens mit größtem Respekt, allerdings gilt dieser fast liebevolle Umgang nicht für Stoßdämpfer, Gaspedal und Bremsen. Ein Umstand, den mir bis zu meiner Abreise niemand erklären konnte. Es regnete. Zwei kleine Kinder standen vor einem Metallgitter und blickten aus ihrer sehr bescheidenen Behausung nach draußen. Wir standen mitten in einem Dorf aus kleinen Baracken, die nicht so aussahen, als ob sie das nächste stürmische Gewitter überstehen würden, und ich war mir nicht ganz sicher, ob wir mit den Straßenkindern im Patio nicht lieber ein anderes Thema hätten behandeln sollen.

Auf der Rückfahrt nach Copacabana sah ich aus einer Baracke ein blaues Licht schimmern. Ein Fernseher, der vermutlich an die Oberleitung der nahen Bahntrasse angeschlossen war. Vielleicht ist Elektrizitätslehre doch nicht so schlecht?! Wir hatten den Straßenkindern u. a. beigebracht, wozu man elektrischen Strom braucht, dass es Leiter und Nichtleiter gibt und dass elektrischer Strom lebensgefährlich sein kann, wenn man nicht vorsichtig damit umgeht. Falls eins der Kinder im Patio eines Tages in Versuchung kommen sollte, einen Fernseher an eine Hochspannungsleitung anzuschließen und dabei nicht zu Schaden kommt, dann haben wir einen kleinen Schritt in die richtige Richtung getan.