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Straßengespräche über Religion

Anna-Lena Wiederhold berichtet über ihren Forschungsaufenthalt in Kolumbien

Dies ist mein zweiter Aufenthalt in Kolumbien, dieses Mal fuer vier Monate.
Ich studiere fuer ein Semester an der Escuela Normal Superior Maria Auxiliadora und gebe zusammen mit Manfred Ferdinand und Elizabeth Ramirez ein Seminar ueber qualitative Forschung. Dieses Seminar richtet sich an Schuelerinnen der 8. Klasse, fuer die dies die erste Phase des Projekts Patio 13 darstellt.
Am Anfang waren wir ein wenig ueberrascht, dass wir mit so jungen Schuelerinnen arbeiten wuerden und fragten uns, wie wohl die 13/14- jaehrigen Maedchen auf die Kinder und Jugendlichen, die auf der Strasse leben, reagieren wuerden.
Unsere Arbeit stellt sich dergestalt dar, dass wir neben unseren woechentlichen Theoriesitzungen mit unseren Schuelerinnen zweimal in der Woche ins Barrio Triste zu einer Gallada von Strassenkindern gehen.
Unser Ziel ist es, dass die Schuelerinnen einen moeglichst umfassenden Einblick in die Lebenswelt der Kinder erhalten, diese naeher kennen lernen und als Menschen mit ihrer Lebensgeschichte wahrnehmen koennen.
Der Anfang war fuer alle ein bisschen schwierig, die Schuelerinnen waren bei ihren ersten Besuchen im Barrio Triste noch sehr schuechtern und hatten sehr grosse Angst und wir mussten jederzeit aufmerksam sein und auf unsere Maedchen acht geben. Die Jugendlichen sind naemlich sehr begeistert von unseren Schuelerinnen, sie versuchen es jedes Mal wieder, Kuesse zu verteilen oder Telefonnummern zu entlocken.
Aber es ist schoen zu beobachten, wie sich die Schuelerinnen von mal zu mal entwickeln, selbstbewusster werden, ihre Angst allmaehlich ablegen und lansam anfangen, sehr intensive Gespraeche mit den Jugendlichen zu fuehren, die weit ueber oberflaechliche Fragen nach Name, Alter und Musikgeschmack hinausgehen. Dadurch, dass wir mit unseren Seminarteilnehmern so regelmaessig ins Barrio Triste gehen, kenne ich einige Jugendliche bereits ganz gut und auch sie kennen mich. Insbesondere mit zwei Kindern/ Jugendlichen habe ich Situationen erlebt, die mir sehr nahe gingen und sehr intensiv waren.

Liliana habe ich bereits im Maerz kennen gelernt. Liliana war damals schon sehr duenn, doch da sie zwei Wochen zuvor ein Kind geboren hatte, hatte sie noch einen Babybauch. Dieses Mal habe ich mich richtig erschrocken, als ich sie das erste Mal wiedergesehen habe. Sie wirkt viel duenner und kleiner als beim letzten Mal. Liliana ist durch ihren Drogenkonsum sehr launisch, so habe ich sie seit August an einigen Tagen ausgeprochen gut gelaunt erlebt, aber wurde auch schon wuetend von ihr beschimpft, wofuer sie sich einen Tag spaeter mehrmals entschuldigte. Liliana durfte uns einen Tag an die Normal begleiten, da es ihr Wunsch war, die Schule zu besichtigen. Bevor wir sie allerdings mitnehmen konnten, wusch sie sich erst die Haare, suchte sich saubere Kleidung zusammen, liess sich friesieren und gab ihre Klebstofftuete einem Freund. Auf der Fahrt zur Normal wurde sie ein wenig muede, versuchte aber sich wach zu halten. Als wir ankamen, staunte Liliana ueber das Gelaende und die Groesse der Normal. Sie wurde von allen Schuelern angestarrt und von einer Frau, die in der Cafeteria arbeitet, ausgefragt (die zu mir anschliessend sagte: „das ist doch eine desechable“). Darauf reagierte Liliana verstaendlicher Weise sehr ungehalten und hatte keine Lust, sich zu unterhalten. Wir haben uns ein bisschen abseits hingesetzt und Liliana ist eingeschlafen, mit dem Kopf auf meinem Schoss. So lag sie sehr lange da und schlief ganz tief. Ich habe mich dabei nicht so wohl gefuehlt, da ich mir Sorgen gemacht habe, ob bei ihr nicht Entzugserscheinungen einsetzen koennten, was dann wohl mit ihr passiert und wie ich mich dann verhalten muesste. Zu meiner Verwunderung ist das aber gar nicht eingetreten, bzw. sie war einfach nur unglaublich muede und hatte sehr grossen Durst, aber keine meiner schrecklichen Visionen hatte sich erfuellt.

Cristian ist ein anderer Junge aus dem Barrio Triste. Er ist 12 Jahre alt, recht klein und traegt immer die gleichen schmutzigen Klamotten: eine kurze Hose, kaputte Schuhe, ein gelbes T- shirt und ein rotes Kreuz an einem Band um den Hals. Cristian freut sich immer, wenn wir mit den Schuelerinnen ins Barrio Triste kommen.
Cristian ist sehr sensibel und ich habe ihn zwei Mal bitterlich weinen sehen, wie Kinder weinen - aber eben nicht, so meine Vorstellung, wenn sie auf der Strasse leben.
Bei der Namenssuchung fuer die Zeitung, die Schuelerinnen der Normal mit den Jugendlichen im Barrio Triste gestalten, war Cristians Vorschlag, die Zeitung „Dios“ zu nennen. Anschliessend versuchte er auch Gott fuer einen Zeitungsbeitrag zu malen. Unter der Ueberschrift „Dios“ malte er einen Kreis, hoerte dann aber auf und benutzte die Rueckseite des Blattes, um ein Bild zum Thema „Familie“ zu malen. Auf meine Nachfrage, was es mit seinem Bild „Dios“ auf sich habe, meinte Christian, er haette versucht, Gott zu malen, aber das wuerde nicht gehen, man koenne Gott nicht malen.
Sor Sara hat Cristian gefragt, ob er in seinem Leben schon einmal etwas Schlimmes erlebt habe. Christian erwiderte darauf, ihm sei in seinem Leben noch nie etwas Schlimmes passiert. Sor Sara fragte ihn weiter, ob in seiner Familie schon einmal jemand gestorben sei. Daraufhin fing Christian an zu weinen und konnte nicht mehr weiter sprechen.

Als wir gestern wieder mit unseren Schuelerinnen im Barrio Triste waren, liefen auf einmal viele der Jugendlichen mitten im Gespraech unvermittelt weg, hin zu ihrem Schlafplatz, der hinter einer Reihe parkender LKWs verborgen ist. Die Polizei war mit einigen Maennern von der Stadtreinigung und einem Muellwagen gekommen und begann die Schlafstelle der Jugendlichen zu raeumen. Auf meine Nachfrage, was sie denn mit den Sachen der Kinder machen wuerden, bekam ich die Antwort, dass das Muell sei und dies ein oeffentlicher Ort und daher die Sachen abtransportiert werden wuerden. Die Jugendlichen waren ganz ausser sich und versuchten noch einige Sachen zu retten. Interessanterweise wurde der kleine Altar mit Heiligenbildern und Figuren nicht angeruehrt.

Nachdem ich im Fruehjahr sechs Wochen in Copacabana/ Medellín war, dachte ich, dass ich schon relativ viel von der Stadt kennen wuerde und auch viel ueber das Land und die Menschen und insbesondere ueber die Jugendlichen und Kinder, die auf der Strasse leben, erfahren haette. Als ich das letzte Mal zurueckgekommen bin, habe ich geglaubt, dass ich einige meiner Vorurteile bestaetigt sehen kann, aber dass viele auch einfach nicht zutreffen. Letztes Mal habe ich beobachtet, dass die Jugendlichen auf der Strasse zu mir als Auslaenderin und vor allem auch als Frau sehr nett und freundlich sind, dass sie aber untereinander eine gewisse Aggressivitaet an den Tag legen. Darin sah ich meine Vermutung bestaetigt, dass nur der Starke auf der Strasse ueberlebt, dass die Jugendlichen nach aussen keine Schwaeche zeigen duerfen und sie als Selbstschutz immer stark wirken muessen. Dieses Mal habe ich beobachten koennen, wie ein blinder Junge, der auch zur Gallada gehoert, gefuettert wird, wie ein Rollstuhlfahrer der Gruppe gemeinsam auf den Boden gesetzt wird und wie ein junger Mann in einem romantischen Gedicht seiner Ex- Freundin seine Liebe gesteht. Alles irgendwie Zeichen menschlicher Verwundbarkeit, aber trotzdem wurde diese Schwaeche von den anderen der Gruppe nicht ausgenutzt. Im Gespraech mit Sor Sara ueber diese Momente wurde meine Beobachtung durch ihre Aussage unterstuetzt, dass es wenig mit Staerke zu tun hat, wer ueberlebt, sondern mit Intelligenz. Nicht der Staerkste ueberlebt, sondern der Intelligenteste.

Fuer die naechste Zeit habe ich mir vorgenommen, intensiver an meiner Forschungsfrage zu arbeiten. Das Thema meiner Abschlussarbeit ist „Todes- und Jenseitsvorstellungen kolumbianischer Strassenkindern“. Ich konnte zwar bereits einige Gespraeche mit Jugendlichen fuehren, empfand diese aber bisher noch als zu oberflaechlich, was sicherlich auch auf sprachliche Probleme zurueckzufuehren ist. Ich moechte ein Projekt von Studentinnen der Normal aufgreifen und mit den Jugendlichen im Barrio Triste eine Zeitung zu den Themen Tod und Jenseits anfertigen. Durch die Bilder und Texte, die die Jugendlichen dann gestalten, erhoffe ich mir gute Gespraechsanlaesse zu gewinnen und intensivere Gespraeche fuehren zu koennen.

Seit dieser Woche gebe ich auch ein Seminar fuer Schuelerinnen der 9. Klasse. Wir besprechen (Volks-) Lieder, die Tod und Trauer als Thema haben. Mit diesen Liedern wollen wir auf die Strasse gehen und versuchen,ueber sie mit den Jugendlichen ins Gespraech zu kommen. Denn unsere Ueberlegung ist, dass Strassenkinder haeufig Schwierigkeiten haben, sich zu artikulieren und ihre Gefuehle nur schwer ausdruecken koennen, dass es aber ueber die Musik, die ihnen viel bedeutet, gelingen koennte.
Ich bin sehr gespannt, wie sich diese Projekte in den naechsten zwei Monaten entwickeln werden.